EINUNDDREISSIG

Die schwere Enttäuschung, die ich empfinde, als ich der Frau mit den rotbraunen Haaren auf die Schulter tippe, nur um festzustellen, dass es nicht Ava ist, macht mir klar, wie dringend ich sie sprechen muss. Und so verlasse ich das Sommerland und lande wieder in meinem Auto, indem ich auf dem Parkplatz an der Crystal Cove Promenade direkt vor Trader Joe's auf den Fahrersitz plumpse. Damit erschrecke ich eine nichts ahnende Kundin dermaßen, dass sie ihre beiden Tüten fallen lässt, woraufhin mehrere Päckchen Kaffee und ein paar Suppendosen unter die geparkten Autos rollen. Ich schwöre mir, ab sofort darauf zu achten, dass meine Abgänge und Auftritte in Zukunft ein bisschen unauffälliger vonstatten gehen.

Als ich bei Ava eintreffe, ist sie gerade dabei, jemandem die Zukunft vorauszusagen, und so warte ich in ihrer hellen, freundlichen Küche, bis sie fertig ist. Und obwohl ich weiß, dass es mich nichts angeht, obwohl ich weiß, dass ich nicht schnüffeln soll, zücke ich sofort meine Quantenfernbedienung und wähle mich in ihre Sitzung ein, erstaunt darüber, wie genau und detailliert ihre Prophezeiungen sind.

»Beeindruckend«, sage ich lächelnd, nachdem ihre Klientin gegangen ist und sie zu mir in die Küche kommt. »Sehr beeindruckend. Ehrlich, ich hatte ja keine Ahnung.« Ich sehe ihr bei ihrem gewohnten Ritual zu, Teewasser aufzusetzen und Kekse auf einen Teller zu legen und ihn mir hinzuschieben.

»Aus deinem Mund ist das ja ein ziemlich dickes Kompliment.« Sie lächelt und setzt sich mir gegenüber. »Aber wenn ich mich recht erinnere, habe ich dir auch einmal eine ziemlich zutreffende Prognose erstellt.«

Ich nehme mir einen Keks, da ich weiß, dass das von mir erwartet wird. Als ich die kleinen Zuckerkrümel von der Oberfläche ablecke, werde ich unwillkürlich ein bisschen traurig, dass dies nicht mehr den gleichen Reiz hat wie früher.

»Du erinnerst dich an unsere Sitzung? An Halloween?« Sie mustert mich scharf.

Ich nicke. Ich erinnere mich genau. An dem Abend habe ich erfahren, dass sie Riley sehen kann. Bis dahin war ich mir sicher gewesen, dass nur ich mit meiner toten Schwester kommunizieren kann, und ich war nicht besonders begeistert davon, dass es damit nun vorbei war.

»Hast du deiner Klientin gesagt, dass sie mit einem Loser geht?« Ich breche den Keks entzwei. »Dass er sie mit einer anderen betrügt, die sie für ihre Freundin hält, und dass sie alle beide so schnell wie möglich in die Wüste schicken soll?«, frage ich und entferne ein paar Krümel, die mir in den Schoß gefallen sind.

»Mit anderen Worten, ja«, sagt sie und steht auf, um unseren Tee zu machen, da der Kessel pfeift. »Ich kann nur hoffen, dass du lernst, die Wahrheit schonend zu übermitteln, falls du dich je selbst als Wahrsagerin betätigst.«

Plötzlich verspüre ich eine Traurigkeit, da mir klar wird, wie lange es her ist, seit ich zuletzt über meine Zukunft nachgedacht habe, darüber, was ich einmal werden will, wenn ich erwachsen bin. Es gab so viele Phasen: Ich wollte schon Nationalpark-Rangerin werden, Lehrerin, Astronautin, Supermodel, Popstar - die Liste war endlos. Doch jetzt, da ich unsterblich bin, jetzt, da ich im Stande wäre, all diese Dinge im Laufe der nächsten tausendsoundsoviel Jahre auszuprobieren, bin ich gar nicht mehr so ehrgeizig.

In letzter Zeit habe ich ohnehin nur noch darüber nachgedacht, wie ich Damen zurückbekomme.

Und jetzt, nach meinem letzten Ausflug ins Sommerland, kann ich nur noch darüber nachdenken, wie ich mein altes Ich wiederbekomme.

Ich meine, dass einem die ganze Welt zu Füßen liegt ist nicht besonders attraktiv, wenn man es mit niemandem teilen kann.

»Ich ... Ich weiß immer noch nicht, was ich tun will. Ich habe noch nicht richtig darüber nachgedacht«, lüge ich, wobei ich mich frage, ob es mir leicht fiele, wieder in mein altes Leben zu schlüpfen - falls ich überhaupt dorthin zurückkehren will, meine ich. Und ob ich dann immer noch ein Popstar sein will wie früher oder ob die Veränderungen, die ich hier erfahren habe, mich dorthin begleiten werden.

Doch als ich Ava dabei zuschaue, wie sie die Tasse an die Lippen hebt und zweimal bläst, ehe sie daran nippt, fällt mir wieder ein, dass ich nicht hierher gekommen bin, um meine Zukunft zu diskutieren. Ich bin gekommen, um meine Vergangenheit zu diskutieren, Ava ins Vertrauen zu ziehen und einige meiner größten Geheimnisse mit ihr zu teilen, weil ich mir nämlich nicht nur sicher bin, dass ich ihr vertrauen kann, sondern auch, dass sie mir helfen kann.

Denn ich brauche wirklich jemanden, auf den ich mich verlassen kann. Es ist einfach absolut ausgeschlossen, dass ich es allein schaffe. Und dabei geht es nicht darum, mir bei der Entscheidung zu helfen, ob ich bleiben oder gehen soll, da mir nämlich langsam klar wird, dass ich im Grunde keine Wahl habe. Ich meine, die Vorstellung, Damen zu verlassen, die Vorstellung, ihn nie wieder zu sehen, ist nahezu unerträglich. Aber wenn ich an meine Familie denke, die, ohne es zu wissen, ihr Leben für mich geopfert hat - entweder wegen eines blöden blauen Sweatshirts, dessentwegen ich meinen Dad zum Umkehren gedrängt habe, was letztlich den Unfall verursacht hat, bei dem sie alle ums Leben kamen, oder weil Drina das Reh absichtlich vor unser Auto hat laufen lassen, damit sie mich loswerden und Damen für sich haben kann -, dann habe ich einfach das Gefühl, dass ich etwas tun muss, um alles wieder in Ordnung zu bringen.

Denn ganz egal, wie man die Sache betrachtet, es fällt alles auf mich zurück. Es ist meine Schuld, dass sie ihr Leben nicht weiterleben können, meine Schuld, dass ihnen ihre rosige Zukunft so brutal genommen wurde. Wäre ich nicht gewesen, wäre das alles nicht passiert. Und obwohl Riley behauptet hat, es sei alles genau so gekommen, wie es kommen musste, ist die Tatsache, dass ich jetzt die Wahl habe, der eindeutige Beweis dafür, dass ich meine Zukunft mit Damen opfern muss, damit sie ihre bekommen.

Es ist die richtige Wahl.

Es ist die einzige Wahl.

Und so wie die Dinge stehen, mit meinem Status als sozial Ausgestoßene in der Schule, ist Ava praktisch die einzige Freundin, die ich noch habe. Und das heißt, dass ich sie brauche, damit sie sich um die Dinge kümmert, die ich eventuell unerledigt zurücklasse.

Ich setze die Teetasse an die Lippen und stelle sie, ohne zu trinken, wieder ab. Dann fahre ich mit dem Finger den geschwungenen Henkel entlang und hole tief Luft, ehe ich zu sprechen beginne. »Ich glaube, jemand vergiftet Damen.« Sie reißt die Augen auf und starrt mich an. »Ich ... Ich glaube, jemand hat ihm irgendwas in sein Elixier getan - sein Lieblingsgetränk. Und seitdem benimmt er sich wie ein Sterblicher - normal, aber auf ungute Weise.« Ich presse die Lippen zusammen, stehe auf und lasse ihr kaum Zeit zum Verschnaufen, ehe ich weiterrede. »Und da ich nicht mehr durchs Tor hineinfahren darf, musst du mir helfen, bei ihm einzubrechen.«

 

 

Der blaue Mond
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